Bettina Khano

Jörn Schafaff 2018

Bettina Khano Übergänge

Jörn Schafaff

Ursprünglich veröffentlicht in Doppelpass II Bettina Khano und Andrea Wolfensberger ‚Tread softly because you tread on my dreams’ (William Butler Yeats), Ausst.-Kat., München: Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst, 2018, S. 14 – 21

 

Der Vorhang markiert die Grenze zwischen dem Innen- und dem Außenraum. Aber der Vorhang schließt das Außen nicht aus, im Gegenteil. Durch das lichtdurchlässige, rotbraun gefärbte Material hindurch ist das Raster der Glasfassade zu erkennen, das den Ausstellungsraum mit der Außenwelt verbindet, dahinter der Innenhof und das gegenüberliegende Gebäude. Aufgrund der Färbung wirkt ihr Anblick ästhetisch verfremdet. Gerade dadurch aber wird die Welt hinter dem Vorhang zu einem Teil der Situation, in der wir uns befinden – des mit künstlerischen Mitteln hergestellten Erfahrungsraums, der uns umgibt und uns einlädt, uns darin zu verorten. Der Ausstellungsraum selbst gehört auch dazu, einbezogen durch das von außen eindringende, rotbraun gefilterte Tageslicht, das dem Saal eine warme, ruhige Atmosphäre verleiht. Bis auf ein paar einfach konstruierte, aus Sperrholz gefertigte Hocker erscheint der hohe Raum der Galerie leer. Scheinbar achtlos im Raum verteilt, bieten diese doch eine gewisse Orientierung, wie Aussichtspunkte, auf denen wir uns niederlassen können, um vor dort aus unsere Umgebung in Augenschein zu nehmen. So auch der Vorhang: Die jeweils 20 cm breiten, senkrecht von der Decke hängenden Lamellen des Vorhangs sind dicht nebeneinander platziert, aber sie überlappen sich nicht. Das verwendete PVC ist zwar formecht, aber elastisch und so entstehen trotz der exakten Anbringung immer wieder kleine Schlitze, die das Licht von außen ungefiltert hereinlassen. Dies wiederum lädt nicht nur dazu ein, an den Vorhang heranzutreten und durch die Schlitze hindurchzuschauen, sondern weckt vielleicht sogar den Impuls, die Lamellen beiseite zu schieben und durch den Vorhang hindurch zu gehen. Aber ist es auch erlaubt? Schließlich befinden wir uns in einer Ausstellung. Wir geben dem Impuls nach, greifen zwischen die Lamellen und treten ins helle Tageslicht.

 

Jetzt sind wir hinter dem Vorhang, in einem etwa ein Meter tiefen Bereich vor der Glasfassade. Ein fast intimer, heimlicher Ort. Aber auch eine Übergangszone – die Grenze zwischen innen und außen nicht als Linie, sondern als Raum. Ohne die Färbung erscheint die Welt hinter dem Vorhang fast ein wenig fade und gleichzeitig zu grell, die Augen müssen sich erst daran gewöhnen. Es gibt eine Tür, sie lässt sich öffnen und nun endlich gehen wir wirklich nach draußen, spüren die Luftveränderung, hören die Geräusche. Wir sehen uns um. Der Innenhof ist größer, als es der Blick von innen erahnen ließ. Dann wenden wir den Blick zurück nach dort, woher wir gekommen sind.

 

„Light and Space“ – unter diesem Sammelbegriff fasst die Kunstgeschichte eine lose miteinander verbundene Gruppe kalifornischer Künstler zusammen, die sich in den 1960er Jahren mit Lichtphänomenen und deren optischen und psychologischen Effekten beschäftigten. Dazu arbeiteten sie mit neuesten technischen Werkstoffen, die der in Südkalifornien angesiedelten Luft- und Raumfahrtindustrie entstammten und in denen sich das Licht in verschieden Farben brach. Es entstanden minimalistische Wandobjekte und Skulpturen, aber auch Environments, die in ihrer Beschaffenheit und Farbwirkung die Wahrnehmung der Betrachter herausforderten. Während die Minimal-Art-Künstler an der Ostküste mit ihren neuen, auf geometrische Grundformen reduzierten Skulpturen „primäre Strukturen“ konstruierten, ging es den Künstlern in Kalifornien eher darum „primäre Atmosphären“ hervorzurufen.[i] Insbesondere von den in künstliches Licht getauchten Umgebungen ging oftmals eine desorientierende Wirkung aus, nicht zuletzt aufgrund von Eingriffen in die bestehende Architektur, etwa der Kaschierung von Ecken und Raumkanten. Ohne diese Bezugspunkte und -linien konnte der Eindruck eine sich endlos ausdehnenden Farbraums entstehen, mit den Betrachtern mittendrin – eine Praxis, die nicht unumstritten war. Michael Asher etwa distanzierte sich 1974 ausdrücklich von der Idee, die Besucher mit künstlerischen Mitteln in andere Welten oder Zustände zu versetzen. „Ich beschäftige mich nicht mit Environments.“ betonte er in einem Interview, „Ich arbeite situationsbezogen. Ich bin nicht daran interessiert, die Wahrnehmung zu manipulieren.“[ii] Zwar hatte auch er schon mit Farbe und architektonischen Strukturen gearbeitet, aber es ging ihm darum, die spezifischen Merkmale der Orte herauszuarbeiten, an denen er ausstellte. Gezielte Eingriffe in die Architektur von Galerien, Museen und anderen Ausstellungshäuser dienten dazu, die konkreten Umstände ins Bewusstsein zu rücken, unter denen die Präsentation und Rezeption von Kunst stattfinden – und zwar sowohl in räumlich-zeitlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Für Asher war Architektur ein Spiegel der Gesellschaft, mit seinem aufklärerischen Ansatz wurde er zu einem führenden Vertreter der so genannten Institutional Critique.[iii]

 

Mit A01 – 802 (Vorhang) (2018) knüpft Bettina Khano, an diese historischen Auseinandersetzungen an, und zwar indem sie Elemente beider Ansätze miteinander kombiniert. Zwar geht es ihr vordergründig nicht um Gesellschaftskritik, aber auch ihr Eingriff lenkt die Aufmerksamkeit auf die vor Ort gegebenen Elemente der Situation: auf den Ausstellungsraum und die durch die Glasfassade gegebene Verbindung zum Innenhof, die dem Ideal des kontemplativen, von der Außenwelt abgeschirmten White Cube zuwiderläuft. Gleichzeitig aber verwandelt die Farbgebung den Ausstellungsraum in ein Environment, das darauf angelegt ist, eine psychologische Wirkung zu entfalten und so die Selbstwahrnehmung zu stärken. Wie die „Light and Space“-Künstler verwendet Khano einen industriellen Werkstoff, aber sie gibt ihm eine Form, die weniger an sphärische als an profane Orte erinnert, an Schleusen und Durchgänge in Industriehallen etwa.[iv]Im Umkehrschluss kann dies dazu führen, dass wir uns einmal mehr den Zusammenhang bewusst machen, in dem wir uns gerade befinden. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich im Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs die Büros eines großen Technologiekonzern befinden.[v] Das wechselseitige Verhältnis zwischen der Faktizität des Gegebenen und seiner individuellen Wahrnehmung erschließt sich in der oszillierenden Bewegung zwischen ästhetischem Erleben und gedanklicher Reflexion. Der Vorhang symbolisiert den Ort, an dem das Kunstwerk seine Produktivität entfaltet: die Schwelle zwischen ästhetischem Erleben und Weltbezug.

 

Die auf der Empore des Ausstellungsraums präsentierten Fotografien greifen das Thema des Übergangs auf, genauso wie das der Architektur, des Lichts und der Situation. Die beiden Aufnahmen von Sea View Lane (Schwelle) (2018) entstanden in einem von dem US-amerikanischen Künstler Jorge Pardo entworfenen Gebäude in Los Angeles, dessen Inneres von einer Abfolge ineinander übergehender Räume bestimmt ist. Geplant als Wohnsitz des Künstlers, thematisiert sein Entwurf die kategorialen Grenzen zwischen Architektur, Design, Skulptur und Malerei. Auf den Bildern ist die Schwelle zwischen einem Badezimmer und einer kleinen Terrasse zu erkennen. Schatten von Gegenständen, die sich draußen befinden, ragen in den Innenraum hinein, ein Moment, den Khano mit ihrer Kamera festgehalten hat. Durch den gewählten Ausschnitt und die Perspektive der Kamera scheint das Motiv an der Grenze zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion zu verharren. Gleiches gilt für Palm Desert (Hand), (2018), wo die abgebildete Hand Assoziationen an die wüstenartige Landschaft des in der Nähe des Joshua Tree Nationalparks zu wecken vermag, gleichzeitig aber auch als abstrakte organische, vom Sonnenlicht konturierte Form zu interpretieren ist.

In der Ausstellung erscheinen die Fotografien wie Wahrnehmungsstudien, die darauf warten, in Betracht gezogen zu werden, wenn wir uns umdrehen und erneut den rotbraunen, im Halbdunkel liegenden Farbraum in den Blick nehmen, den Vorhang und die Welt dahinter, aus einer anderen Perspektive.

 

 

[i]       „Primary Structures: Younger American and British Sculptors“ war der Titel einer Ausstellung im New Yorker Jewish Museum, mit der die neue Skulptur 1966 erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Bezeichnung „primary atmospheres“ prägte der Kunstkritiker Dave Hickey.

[ii]      Asher zit. nach Sandy Ballatore, „Michael Asher: Less Is Enough“, in: Artweek 5, no. 34 (October 12, 1974), 16. (Übersetzung JS).

[iii]      Vgl. Kirsi Peltomäki, Situation Aesthetics. The Work of Michael Asher, Cambridge (Mass.) und London: The MIT Press, 2010.

[iv]     „A01 – 802“ ist die technische Bezeichnung für den rotbraunen Farbton.

[v]      Auch die Hocker verweisen auf einen sozialen Kontext. Es handelt sich um Exemplare des „Berliner Hockers“ von Van Bo Le-Mentzel, die Khano nach einer im Internet frei zugänglichen Bauanleitung angefertigt hat. http://hartzivmoebel.blogspot.de/p/berliner-hocker.html.